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Dienstag, 19. Juli 2011

Anarchist trägt Siegelring

Am Tisch sitzen drei Herren und diskutieren aufgebracht. Mein Onkel Hans-Christian und seine Weggefährten. Vertreter einer anderen Zeit. Es ist bereits spät. Die Stimmung aufgebracht. Sentimental. Der Herr mit Glatze klopft auf den Tisch, um seinem Punkt Nachdruck zu verleihen. "Die Bundesrepublik ist entgegen gängiger Annahmen kein Rechtsstaat!" Verwundert sehe ich auf seine schmalen Hände, seinen Siegelring. Es geht um den verlorenen Krieg, Enteignung, Volkseigentum, empfundene Ungerechtigkeit, vermeintliches Diebesgut, Hehlerei.


Um die Sichtweise der Herren zu verstehen, muss man ihre Geschichte kennen. So zum Beispiel die von Hans-Christian. Seine Kindheit war geprägt vom weitem Himmel, endlosen Feldern, geselligen Abenden auf befreundeten Gütern. Sein Weg schien vorbestimmt. So wie der des Vaters, Großvaters und des Urgroßvaters.

Doch diese Kindheit endet jäh, als Deutschland den Krieg verliert. Ein Krieg, den Hans-Christian nicht versteht. Mit dessen Ursachen seine Generation wenig zu tun hat. Ueberstürztes Packen. Die Flucht vor den Russen. Zurücklassen von allem, was ihm lieb ist. Ein letzter Blick auf das Gutshaus in der Abendsonne.

Es folgt die Flucht quer durch Deutschland. Hunger. Entbehrung. In einem Waldstück erschießen sich die Schwiegereltern der Schwester. Wenig später verliert er sein einziges Paar Schuhe, als er seiner Mutter hilft, den Fluss zu überqueren.

Das Leben im Westen ist hart. Man lebt im Provisorium, erwartet bald zurückzukehren. Dann fällt der Vorhang. Geteiltes Deutschland.

Die Wende. Der Mauerfall. Hans-Christian reist in den Ort, den er auch noch nach 40 Jahren noch als seine Heimat bezeichnet. Er weint, als er vor dem verfallenen Haus seiner Kindheit steht. Doch seine Tränen sind bittersüß. Er hofft, zurückzukehren. Doch die Erwartung, das Gut von der Bundesrepublik zurück zu erhalten, zerschlägt sich. Der Besitz steht nicht zur freien Verfügung, sondern zum Kauf. Noch nicht einmal einen Bruchteil der Summe kann Hans-Christian aufbringen, geschweige denn, die Raten abstottern, die ein Kredit mit sich bringen würde.

Dennoch wagt er mit seinen gut sechzig Jahren den Neuanfang. Verlässt Frau und Häuschen und zieht zum zweiten Mal ins Ungewisse. Lebt unter bescheidensten Umständen. Wandert über die Felder, die einst seinem Vater gehörten. Atmet den Duft des Waldes seiner Kindheit. Zu stark ist es, dieses Heimatgefühl.

4 Kommentare:

  1. Sehr interessante Geschichte! Manche Leute in dem Alter haben eine Sicht auf die Dinge, die schwer nachzuvollziehen ist.
    Die Familie meines Vaters ist im Krieg aus Ostpreußen geflohen (waren aber KEINE Gutsbesitzer). Er interessiert sich sehr für die Flucht und die "alte Heimat", aber er ist nicht so jemand, der da irgendwas zurückfordern würde. Meine Eltern sind inzwischen zweimal in Königsberg gewesen und haben sich zu großen Russland-Fans entwickelt.

    Sorry, dass meine Kommentare bei dir immer so lang sind!

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  2. Wow, das sind Geschichten, die das Leben schreibt... Heute ist es für uns unvorstellbar, wie die Menschen damals über die Runden gekommen sind.

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  3. Ich höre öfters solche Geschichten von alten Menschen, sie sind intressant und traurig oftmals..

    Liebe Grüsse Elke

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