Im Nachlass meiner Vorväter bin ich auf die Geschichte von Helene W. gestoßen. Sie lebte ein aufregendes Leben, schillernd und tragisch zugleich. Da mich die Geschichte fasziniert, möchte ich sie euch erzählen.
Helene erblickt 1896 das Licht der Welt. Etwas überstürzt, denn die Eltern haben nur drei Monate zuvor geheiratet. Es gibt in unserer Familie gewisse Zweifel, ob Helene das leibliche Kind des Vaters ist.
Doch unser Verdacht tut seiner Liebe zu seiner Tochter keinen Abbruch. Ein Photo des Jahres 1910 zeigt die beiden zusammen mit Helenes jüngerem Bruder Armand im heimischen Garten. Der Vater, mittlerweile ein "Self-made man", macht keinen Unterschied in er Erziehung zwischen Tochter und Sohn. Er glaubt nicht an vorgegebene Geschlechterrollen. Und das ist auch besser so. Helenes Kreuzstiche sind schief und Noten lesen kann sie trotz des wöchentlichen Klavierunterrichts immer noch nicht. Sie möchte das Leben spüren. Die Welt entdecken!
Nach ihrer Reifeprüfung im Jahr 1916 bittet sie den Vater, studieren zu dürfen. Und zwar keine schönen Künste, sondern Jurisprudenz. Der Vater unterstützt das gerne, denn seine geliebte Helene ist die erste in der Familie, die studiert. Dass der soziale Kreis der Eltern deren Suffragettentochter ablehnend gegenübersteht, kümmert die Familie wenig. Jeder soll auf seine Façon selig werden!
1920 verlässt Helene die Universität mit einem Abgangszeugnis, was bescheinigt, dass sie acht Semester studiert hat. Wo ist das Diplom? Es scheint keines zu geben. Irgendetwas von größerer Bedeutung muss in dieser Zeit in Helenes Leben vorgefallen sein, denn aus den Jahren 1920 und 1921 gibt es einige Rechnungen der örtlichen Nervenheilanstalt, unmissverständlich auf den Namen "Helene W." ausgestellt.
Doch sie scheint sich wieder zu fangen. Im Jahr 1921 heiratet sie und folgt ihrem Mann in seine niederländische Heimat. Ob er wohl ihr Studienkollege war? Wir wissen es nicht. Kurz danach wird Helene Mutter der kleinen Helenka. Ich habe kürzlich ihr Babylöffelchen beim Festtagsbesteck meiner Mutter entdeckt. Das silberne Löffelchen trägt die Gravur "Helenka 1922". Da es bei uns liegt, denke ich, dass es im Hause der Grosseltern liebevoll für Lenka aufgedeckt wurde.
Doch Helenes Familienglück ist nur von kurzer Dauer. Sie hat aus den Erzählungen zu schließen einen dominanten Charakter, kann sich nur schwer in eine Gemeinschaft eingliedern. Das Paar lässt sich scheiden. Ob Lenka zu der Zeit noch bei der Mutter verbleibt, ist unklar. Einige Zeit später verliebt sich Helene neu. Wieder in einen Holländer. Daniel ist ein stattlicher Mann, mit hellen Augen und beeindruckendem Schnurrbart. Er arbeitet für eine niederländische Importfirma, welche Güter aus den Kolonien bezieht.
Helene ist Feuer und Flamme, als ihr Daniel vorschlägt, nach Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien, auszuwandern. Es keimt wieder Lebenslust in ihr auf. Nun wird sie endlich die Welt sehen! Ende der zwanziger Jahre bucht das frisch verheiratete Paar eine Schiffspassage in das ferne Tropenparadies. Die kleine Lenka wird zurückgelassen. Die Tropen sind nichts für das kleine Mädchen, zudem ist Helene stark mit sich selber beschäftigt.
Die nächsten Jahre vergehen wie im Flug. Helene und ihr Mann genießen das beschwingte Leben der Kolonialherren in Batavia. Am Wochenende besucht man Freunde auf ihren Teeplantagen. Während der Woche genießt man das süße Leben mit seinen ganzen Verlockungen in der Hauptstadt. Es wird ähnlich gewesen sein wie das Berlin der zwanziger Jahre. Der Tanz auf dem Vulkan.
Doch das Karussell hört sich abrupt auf zu drehen. Die Japaner bombardieren Pearl Harbor. Die Niederlande übermittelt die Kriegserklärung. Die Japaner marschieren in Batavia ein. Was nun geschieht, ist ein Wirrwarr, in dem Fakt kaum mehr von Fiktion zu unterscheiden ist.
Die Versorgung bricht zusammen. Es gibt nichts mehr zu essen. Helene wird auf dem Schwarzmarkt aktiv. Sie verschleudert ihren Schmuck, die Erinnerung an ihr altes Leben in Europa, für wenige Schalen Reis. Verzweifelte Briefe erreichen ihren Bruder Armand, der sich in einem neutralen Land aufhält. Dieser setzt alle Hebel in Bewegung. Er wendet sich an die Botschaft, mit der Bitte, man möge die Schwester ausreisen lassen. "Es tut uns leid", folgt der abschlägige Bescheid, "doch Ihre Schwester ist durch Heirat in den holländischen Staatsverband eingetreten. Uns sind die Hände gebunden." Im Jahr 1943 endet der Briefwechsel abrupt.
Was nun geschah, ist unklar. Es gibt zwei Versionen. Mein Vater behauptete zeitlebens, man hätte Helene im Konzentrationslager umgebracht. Ob es auf Java überhaupt Konzentrationslager gab? Aus den erhaltenen Dokumenten schließe ich hingegen, dass Helene, wie so viele andere an Folgen der Mangelernährung einen schleichenden Tod gestorben ist.
Helenes Schicksal fasziniert mich. Sie folge einen sehr unkonventionellen Weg für die damalige Zeit. Wurde sie glücklich dabei? Ich glaube es nicht. Ich wünschte, es würde jemand über sie schreiben.
Miss Winkelmann,
AntwortenLöschenfaszinierend und interessant geschrieben.
In den Internierungslagern sind sehr viele Menschen ums Leben gekommen - speziell auch in Japan, Indonesien und Südafrika.
Ich möchte Dir noch einmal sagen, daß ich mich freue, dich gefunden zu haben.
Liebe Grüße
Irmi
Wow, das ist eine sehr interessante, vielseitige Lebensgeschichte.
AntwortenLöschenDass du überhaupt soviel über sie weißt, erstaunt mich.
Und dass du den Löffel ihrer Tochter noch besitzest, das ist ja großartig. So lebt sie weiter... könnte man sagen.
Viele Grüße
Nachtrag:
AntwortenLöschenIch sprach vorhin mit meiner Mutter. Sie meinte, dass Lenka nicht mehr lebt. Das ist sehr schade, denn ich hatte gehofft, noch mehr über Helenes Leben zu erfahren.
Ich habe Deinen Blog quergelesen, Du hast eine tolle Schreibe! Helene W. ist eine faszinierende Persönlichkeit. Das Leben bietet soviel Stoff, warum schreibst Du nicht ein Buch?
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